Musikalische Müherziehung
Es war Valentinstag. 14. Februar 2015. Kein Mann damals an meiner Seite, aber ein Sohn mit neun Jahren und damit im besten Alter für Frauen, die gerne Tag für Tag überschwänglich umarmt werden und gesagt bekommen, dass sie die Schönste im ganzen Land sind, am besten kochen und am liebsten geheiratet werden wollen.
Warum ich mich an diesem Samstagabend ausgerechnet mit Bruckners Achter – man kann auch sagen: mit Bruckners Längster – für seinen unvergleichbaren Charme und seine unerschütterliche Geduld bedankt habe, ist mir aus heutiger Sicht ein Rätsel. Und ich kann es mir nur dahingehend erklären, dass ich mal wieder mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte: Ludwig nicht allein lassen müssen bei der Schwester in der Hölle der Pubertät. Zusehen, dass der Bub seine Bildung bekommt. Selber nicht allein im Konzert sitzen müssen. Die zweite Karte, die freundliche Veranstalter uns Musikkritikern immer zur Verfügung stellen, wurde jedenfalls seine.
Wie immer, wenn ich Bildung schmackhaft machen möchte, verspreche ich auch an diesem Abend, an dem das Sinfonieorchester des KIT ins Konzerthaus zum „Faschingskonzert“ geladen hatte, Schokoriegel und Cola. Da – die beiden ersten Haken: Bruckners Achte und Fasching haben soviel miteinander zu tun wie die Vereinigten Arabischen Emirate und die Seiser Alm. Das war mir vorher natürlich bewusst. Nicht aber, dass dies das einzige Werk des Abends sein sollte. Die Pause zwischen zweitem und drittem Satz von Bruckners Längster war meine bisher kürzeste. Weder war Zeit zum Schokoriegel kaufen, noch hätte es einen solchen gegeben.
Ludwig war schon vor der Pause so tapfer wie es Neunjährige nur sein können, die der allerschönsten, allerliebsten Mutter niemals auf die Nerven gehen möchten. Die redundante Frage, die man sonst nur von sehr langen Autofahrten kennt, nahm einen dieser ungeahnten Wege, für die allein es sich lohnt, Kinder bekommen zu haben:
Allegro moderato. Streicher und Blech nehmen Schwung zur großen Steigerung.
Ein Flüstern: „Mama? Wie lange noch?“
Ich (nur mit den Lippen): „Sieb-zig Mi-nu-ten“
Eine Klarinette weint.
Ein Flüstern: „Mama? Wie lange noch?“
Ich: „Stun-de“
Streicher, sehr leise. Kleine Finger tippeln auf Jeans. Mein Puls steigt.
Ein Flüstern: „Mama? Wie lange noch?“
Ich (verdrehe stumm die Augen): –
Pauken. Trompeten. Schmettern.
Ein Flüstern: „Mama? Wie lange noch?“
Ich: „Nicht mehr sooooo lang…“
Das war stark untertrieben. Aber was will ich machen? Als dann ungefähr die Stelle am Ende des ersten Satzes von insgesamt vier erreicht war, die Coda also, über die Anton Bruckner schrieb „Dös is so, wie wenn einer im Sterben liegt und gegenüber hängt die Uhr, die, während sein Leben zu Ende geht, immer gleichmäßig fortschlägt…“, da war dann auch Flüstern nicht mehr nötig.
Großes Blech. Die so genannte „Totenuhr“ dröhnt. Trompeten pressen uns tief in den Sitz.
Ludwig erschreckt mich fast zu Tode: „Mama? Kannst Du mir deinen Stift geben?“ Und zieht mir siegessicher den Programmzettel weg.
Ich gestehe, von da an nur noch mit halbem Auge bei der Sache gewesen zu sein. Denn ich wollte natürlich wissen, welche Botschaft mein Sohn mir schreibt. Nur zwei Worte: „zu laut“. Und daneben ein stummer Schrei. Wie einst Edvard Munch, nur im Profil!
Zum Dank für diese Skizze habe ich Ludwig einen Monat später zum ersten Mal mit in die Oper genommen. Wagners „Parsifal“ im Badischen Staatstheater. Auch, um ihm zu beweisen, dass auf mich Verlass ist und es zu solchen Anlässen tatsächlich Schokoriegel gibt. Der Abend dauerte dreimal so lang als der des Valentinstags. Ich erhöhte deshalb schon vorher mein Angebot: „Bei Nichtgefallen kommt Papa in der Pause und holt dich.“ Die Neugierde darauf, wie das mit Schwert und Gral nun weitergeht, siegte. Diesmal wollte Ludwig keinen Stift. Schließlich gab es zwei lange Pausen. Und Schokoriegel.