Mein Teenager und ich teilen uns einen Flügel – und einen Eyeliner
Meine Tochter Marie und ich teilen uns einen Flügel. Genau genommen ist das mein Flügel, den ich nach vielen fleißigen und tastenverliebten Jahren am Klavier meines Vaters dank seiner großzügigen Spende und der seines Vaters sowie eines nicht geringen Eigenanteils zu meiner wahnsinnigsten Begeisterung mit 18 Jahren endlich kaufen durfte. Mein erster großer Traum: Er ging in Erfüllung. Dieser Flügel der Marke Sauter ist ungefähr zwei Meter breit und 1,85 Meter lang. Nimmt also rund vier Quadratmeter ein und schmiegt sich – schwarz wie er ist – nicht ohne eine gewisse Überpräsenz in Wohnräume. Es sei denn man hat Wohnzimmer der Weite wie jenes in der ersten Szene von „Alien: Covenant“. Dieser Anblick hat sogar mich in diesen Film gelockt, weil meine Lieblings-Feuilletons das Foto von Michael Fassbender am Piano zur Filmbesprechung gewählt haben. Ein solches Wohnzimmer habe ich jedenfalls nicht. Und der restliche Film ist auch nichts für mich.
Vier ungefähr zehnmal so kleine, aber sehr schöne Zimmer hat meine Altbauwohnung. Zwei davon sind mir geblieben, seit es sinnvoll erschien, meinen damals siebenjährigen Sohn räumlich von den Kapriolen der vier Jahre älteren und zunehmend hormongeplagten Schwester zu trennen. Ein zweites Bad fehlt schmerzlich. Chopin könnte ein Lied davon singen. Aber dazu später.
Der geliebte Sauter musste also mit Marie ins Zimmer. Daran führte kein Weg vorbei. Die Tochter bekam mein früheres Schlafzimmer. Ich schlafe jetzt im früheren Wohn-/Esszimmer. Das vormalige Lese- und Musikzimmer ist das neue Wohnzimmer, das nur noch wenig mit Ruhe am Feierabend zu tun hat. Vielmehr fungiert es tagsüber als Treffpunkt für Youtube- und Serien-Junkies, wird munter bebröselt und das Erscheinen von Eltern wird dort auch abends mit nach oben gerollten Augen quittiert. Weder dort noch in meinem mir verbliebenen eigenen Reich, dem neuen Schlafzimmer, hätte der Flügel Platz. Deshalb steht er bei Marie.
Das ist praktisch. Meine Marie spielt selbst auch Klavier, seit fünf Jahren hat sie Unterricht. Und sie spielt schön. Freilich anders als ich das damals bei Frau Schafberger gelernt habe. Noten lesen ist nämlich „egal“. Aber was sich Marie von der empathischsten aller Klavierlehrerinnen rein übers Gehör ablauscht und neu interpretiert, ist tatsächlich zauberhaft und gefühlvoll. Noch viel lieber aber singt Marie. Noch zauberhafter und noch gefühlvoller. Neulich stand sie am geöffneten Fenster und bot der Straße ein herzzerreißendes „Endlich sehe ich das Licht“ aus „Rapunzel neu verföhnt“ dar. Ich war so gerührt, dass ich die Nachbarn der kompletten Straße vergaß. Marie nimmt Gesangsunterricht. Sie macht das toll. Immer wieder mal tritt sie auch öffentlich auf. Und sie übt ständig.
Ich übe gar nicht mehr ständig. Denn es gibt nicht mehr viele Minuten in meinem Leben als Vollzeitberufstätige, an denen ich außerhalb der Bürozeiten in meiner Mietwohnung Marke Altbau mit Wänden wie Pergament der Nachbarin nicht auf den Wecker gehe. Da hilft auch der schönste Chopin nicht. Nicht mal sein schönstes Nocturne. Frau R. und ich haben eine Vereinbarung: kein Chopin mehr ab 20 Uhr. Natürlich auch kein Mozart, kein Scarlatti, kein Beethoven.
Nun liebt selbst meine mich chronisch peinlich findende Tochter diesen Chopin. Er ist vergleichsweise neu in meinem Leben und will noch unendlich oft gespielt werden. Weil ich damit Note für Note der Liebe zu meinem Flügel und gleichzeitig der Liebe zu meinem Freund Farbe verleihen kann. Mein Freund hat sich das Stück nämlich zu unserer ersten gemeinsamen Weihnacht von mir gewünscht: das Nocturne op. 9 Nr. 1.
Aber: Nur Übung macht den Meister. Also erlaube ich mir, die Tochter gelegentlich heimzusuchen. Denn das war die Vereinbarung: Sie kriegt ihr eigenes Zimmer, ich darf jederzeit an meinen Flügel. So schleiche ich auch an diesem Nachmittag, an dem ich wage, Urlaub zu haben und mich in meiner Wohnung aufzuhalten, an den Flügel. Obwohl Marie gerade am Rechner sitzt und laut Musik hört. Ich öffne den Flügel, platziere das Buch mit den Chopin-Nocturnes. Da faucht es: „Mama? Du willst jetzt nicht Klavier spielen, oder!? Ich mach meine GFS!“ Ich denke nur, wer Musik zur Erarbeitung einer so genannten „gleichwertigen Feststellung von Schülerleistungen“ hört, erträgt auch den Chopin. Und ich sage freundlich, „ja, ich spiele jetzt“. Sie dreht die Musik noch lauter. „Gut, und ich mach meine GFS!“ Während ich mit meinem Wutausbruch wie gewöhnlich erstmal warte und sie mich währenddessen aufklärt, was die laute Musik mit der GFS zu tun hat (sie handelt von der Band „TWENTY ØNE PILØTS“), spiele ich zärtelnd mein Nocturne.
Nun das Wunder: Noch vor meinem Wutausbruch würgt Marie plötzlich ihre Musik ab und summt stattdessen versonnen mit dem Chopin mit. Statt vom Hocker zu fallen, spiele ich weiter. Und liebe in diesen Minuten nicht nur gleichzeitig meinen Freund und meinen Flügel, sondern auch meine für kurze Zeit von ihrem eigenen Trotz geheilte Tochter.
Tagsdrauf wage ich die Tür zum Badezimmer zu öffnen. Obwohl das kleiner ist als ein Pferdehänger und obwohl Marie darin mit Kopfhörern im Ohr mitten im Schminkprozess – vergleichbar nur mit einem katholischen Gottesdienst – steckt. Wahrscheinlich wollte ich meine Zahnbürste zurückstellen, nachdem ich mir die Zähne in der Küche…naja. Wie Marie da so mit angehaltenem Atem und Kopfhörern im Ohr am Spiegel klebt, stockt auch mir der Atem. Was sehen meine erziehungsmüden Augen? Auf dem Display von Maries Handy leuchtet das Cover eines Albums, das mein von der Suche nach Chopin-Interpreten geschultes Auge sofort wieder erkennt. „Hörst du das Nocturne?“ frage ich erstaunt, aber erfreut. „Ja“, keift sie. „Und jetzt lass mich, Chopin ist gut für den Lidstrich!“
Meine Tochter und ich teilen uns übrigens auch einen Eyeliner. Genau genommen ist das mein Eyeliner.