Der Döner war‘s

Jazz-Nostalgie und der verlorene Push-up

Ein Haus ohne Tochter ist wie eine Wiese ohne Blume. Für mich ist diese Lebensweisheit zum Mantra geworden, um das nicht immer besonnene Verhalten meiner jetzt 17-Jährigen besser zu verdauen. Und manchmal treibt das richtig nette Blüten.

18 Stück davon und ganz unterschiedlicher Gattungen und Düfte waren neulich in meiner Wohnung. Nur 17 sind mit BH nachhause gegangen. Eine ohne. Männer waren auf Maries Geburtstagsparty erwiesenermaßen weder eingeladen, noch anwesend. Das hat mir meine Tochter erstens vorher stolz angekündigt („is’ viel weniger Stress“), zweitens lag der Beweis nach der Party unangetastet im Kühlschrank: Das Bier war noch vollständig. Warum also schon wieder ein BH liegengeblieben ist wie schon ein Jahr zuvor bei gleichem Anlass – die Politik ist ratlos…

Ich bin jedenfalls froh, mal wieder nachgegeben zu haben. Denn eigentlich wären nach mittlerweile drei nicht immer von mir genehmigten sturmfreien Partys in meinem Reich jetzt wirklich mal der Vater meiner Blume, mein Ex-Mann, und seine Wohnung dran gewesen. Aber seine Partnerin hat tatsächlich noch weniger Lust darauf, die Kontrolle über ihr Haus an die Blume abzugeben, als ich. Also hat der Vater vorher zwar den Partyeinkauf erledigt und jetzt kein Schweppes am Boden kleben, aber ansonsten wirklich viel verpasst.  Zum Beispiel, dass ein Dirigent und zwei Musiker aus dem Orchester nicht nur Figaros „Cinque“ mit wonniglichem Mozart zu umgarnen imstande sind, sondern auch „Take Five“ im Trio zu prächtiger Jazz-Blüte zu treiben. 

Zuhause sind wir über einen Zeitraum von neun Stunden jedenfalls unerwünscht, nicht mal in meinem Schlafzimmer darf ich mich verstecken. Doch zum Glück retten Freunde unseren Abend, locken mich und meinen Mann an einen herrlich verwunschenen Ort zu großartig unverbrauchtem Jazz und verwöhnen uns anschließend auch noch mit einer leckeren Brotzeit.

Blume Nr. 4 hatte einen Döner, doch dazu später.

Männer bekomme also nur ich zu Gesicht und Gehör an diesem Abend. Und im Alten Pfarrsaal von Nöttingen sind die drei Musiker des „Trio Tirantes“ sowieso bunte Hunde. Die dort von Petra Jahn liebevoll organisierte Kulturreihe erlebt für gewöhnlich Gediegeneres wie zum Beispiel Lesungen oder Kammermusik. Aber Marco Dalbon aus Italien am Schlagzeug, Xiaoyin Feng aus China am Bass und Johannes Willig aus Karlsruhe am Flügel heizen den von Abendsonne durchfluteten alten und hohen Raum, in dem schon das zwei Meter lange Brot auf gesellig-hungrige Münder beim Ausklang nach dem Konzert auf einem Fensterbrett wartet, derart ein, dass man sich privilegiert fühlt dabei sein zu dürfen. Eine kleine Sternstunde mit Jazz-Standards wie Dizzy Gillespies „Night in Tunisia“, Dave Brubecks „Take Five“ oder Cole Porters „Night and Day“. Das Spiel beginnt stets zuerst ganz vertraut, wird dann aber mit einer herrlich unverbrauchten Freude am Improvisieren fortgesponnen. „I will wait for you“ von Michel Legrand und Jacques Demy zum Beispiel treiben die drei durch eine Mühle an Stilen und es erklingt in Gewändern zwischen Barock und Rock.

„Das war eh meine Musik“, wird tagsdrauf die Nachbarin unter mir über das sagen, was durch meinen Wohnzimmerboden zu ihr nach unten dringt. Was mich rückwirkend beruhigt. Kurze Zeit dachte ich nämlich, es kommt ganz anders.

Es sind noch 20 Minuten bis zur hart ausgehandelten spätestmöglichen Rückkehr. Mein Mann und ich sind wohlig aufgefangen bei Freuden und satt, ich sogar alkoholfrei. Ich will ja der Polizei, die möglicherweise auf Beschwerden der Nachbarn hin gerufen werden könnte, nicht lallend versichern, dass ich als Erziehungsberechtigte alles im Griff habe. Wir plaudern. In dem Moment als ich noch ganz begeistert bin von meiner Idee, Maries 18. nächstes Jahr mit Freunden und (!) Familie zu feiern, aber die drei anderen mich dafür auslachen, klingelt mein Handy. Am anderen Ende eine schluchzende 17-Jährige. Sie wolle nicht mehr zurück zu ihrer Party. Dort werde gekotzt. Und das vertrage sie leider gar nicht. Sie stehe jetzt am ZKM-Vorplatz. Sie habe doch allen gesagt: „Denkt an Eure Grenzen“ und „wer kotzt fliegt raus!“ Blume Nr. 4 habe das missachtet.

In meinen Kopf nur das Bild eines sinkenden Schiffes ohne Kapitän. Die Zeit ist reif für den Heimweg.

Das Mädel, das ihr Inneres nach außen gestülpt hatte, war bereits vom Vater in Watte gepackt abtransportiert, als wir zuhause im Treppenhaus von einem verzweifelten (und durchaus alkoholisierten) Geburtstagskind in Empfang genommen werden, flankiert von ihren zwei engsten Vertrauten. Die Angst vor der Schelte steht ihnen auf der Stirn. Über 30 vorbildlich vor der Türe abgestellte Schuhe hinweg betreten wir dann eine Wohnung, in der umgehend die Gespräche verstummen, nur ein dürftiger Rap noch durch die Räume wabert und wir in 15 „Scheißejetztgibtsärger“-Augenpaare blicken. Ihr kennt das, wenn man an einer Kuhweide vorbeikommt und alle hören auf zu grasen und glotzen? Genau! Bis die kapiert haben, dass Daniel nur eine Kippe will und ich nur die Musik leiser, das hat gedauert. So gut geputzt war meine offenbar vorab zu Magenreinigungszwecken genutzte Badewanne übrigens noch nie. 

Blume Nr. 4 hatte einen Döner gegessen, der ihr im Rückblick nicht gut bekommen sei, sagt sie. Ich denke zwar, das war das Zeug, mit dem sie ihn runtergegossen hat und vor allem davon zu viel. Aber was zählen schon Erfahrungen einer 42-Jährigen. An diesem Abend werde ich nach meiner Heimkehr mehrfach aufgeklärt. Zum Beispiel erklärt mir eine andere Blume – sie will mir unbedingt aufräumen helfen bevor ich selbst überhaupt auf die Idee komme –, dass man sich das im Leben wirklich wichtigste Jahr nicht mit so einem Rausch wie Blume Nr. 4 kaputt machen soll, sondern bitte erst ein Jahr später. Neugierig geworden, fange ich ihr zuliebe an, die Küche aufzuräumen und lasse sie plaudern.

Erst als alle gegangen sind, gehe ich zur Toilette und beginne zu rätseln. Es scheint sich ein Motto von Geburtstag zu Geburtstag zu ziehen: Alle sind weg – ein BH bleibt übrig. Aber keine vermisst ihn. Wann immer ich meine Tochter frage, ob sich mal eine nach ihrem Push-Up erkundigt hat, ernte ich einen angewiderten Blick.

Blume Nr. 4 kam tagsdrauf, um sich für ihre Entgleisung zu entschuldigen. Und sie betonte mehrfach: Der Döner war’s. Nach dem BH hat sie nicht gefragt.

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